LA FEDELTÀ PREMIATA

Irrungen und Wirrungen

Regisseur Jens-Daniel Herzog im Gespräch

Exposition und Handlungsverlauf in Joseph Haydns «La fedeltà premiata» sind wirr und episodisch. Man hat den Eindruck, dass hier ad libitum Spielpersonal erfunden wird, um Situationen zu bedienen. Ist das Stück ein Karussell der Beliebigkeit?

Natürlich bewegt sich Haydn hier in einer ganz anderen Logik als wir das zum Beispiel von Schillers Dramen gewohnt sind, oder auch von Wagner und Verdi. Es ist die Logik der Abwechslung, der Verwechslung, die Logik der Irrungen und Wirrungen. All das ist anspielungsreiches, unverbindliches Entertainment, wie es am Ende des 18. Jahrhunderts geschätzt wurde. Wer für eine Viertelstunde die Loge verließ, wollte, wenn er zurückkam, nichts verpasst haben. Wir leben heute in einer Opernwelt mit ganz anderen Rezeptionsbedingungen, die aus dem 19. Jahrhundert stammen: Das andächtige Lauschen und die Erwartung, dass der Abend «Musiktheater» bieten soll, ist, wenn wir Haydns Opern hören, ein Anachronismus. Und es schadet nicht, wenn wir Selbstverständlichkeiten, die eigentlich keine sind, bisweilen hinterfragt bekommen. 

Heißt das, dass Sie die Figuren ihrer Unverbindlichkeit überlassen?

Nein, der Anspruch ist, ihre innere Biographie herauszuschälen, aber ich ziele dabei nicht auf eine moderne Alltags- oder Fachpsychologie, das würde dem Stück nicht gerecht. Mit unserer Bühnenübersetzung – Arkadien wird zu einer Sekte, der Fluch der Göttin zum Dogma der «freien Liebe» –  haben wir einen Rahmen geschaffen, der allen Personen eine Grundausrichtung, eine Orientierung, ein Lebensproblem vorgibt; vor diesem Hintergrund kann man sie radikal ernst nehmen, als Menschen, nicht als Typen. Und erst vor diesem Hintergrund wird auch voll spürbar, was Haydn musikalisch in diesem doppelgesichtigen Werk an gesteigerter Emotionalität geschehen lässt. Es ist eine semiseria im emphatischen Sinne, auch die buffonesk konzipierten Figuren bekommen Tiefe und Echtheit. Jede von ihnen reagiert anders auf das Verbot treuer, exklusiver Liebe, aber alle müssen erfahren, wie ihr Inneres, ihre geheime Seelenmusik sich dagegen sträubt. Sie kommen in eine Spannung mit sich selbst, die sie, so oder so, aushalten müssen. Erst die wahre Liebe zwischen Celia und Fileno bringt das System zur Erosion. Musil hat einmal gesagt: Jede Liebesbeziehung ist eine Auflehnung gegen das Gesetz der Masse. Genau das passiert hier. Und die Masse zeigt sich natürlich unerbittlich, wenn sie argwöhnt, dass an ihren ideellen Grundlagen gerüttelt wird.

Ihre Inszenierung – die Ausstattung besorgte wieder Mathis Neidhardt – verankert also das Stück in einem aktuellen Realitätsraum, in der Welt der Sekten, des wohlfeilen und geschäftssinnigen Religionsersatzes. Zugleich lassen Sie Arkadien erstehen, den ewigen Nicht-Ort. Wie geht das zusammen?

Die Anbindung ans Konkrete – hier ist es die Zivilisationsflucht der 60er- und 70er-Jahre – gehört zu unserer Handschrift, zu unserer Arbeitstechnik. Wir schaffen einen letztlich doch fiktiven Ort, der aus vielen konkret-historischen Verweisen und Anspielungen zu neuer Bühnenwirklichkeit montiert ist. Hier ist es das profane Kongress- und Lebenszentrum einer Sektengemeinschaft, achtlos bestückt mit religiösen und parareligiösen Lebensspuren. Ebenso wichtig wie Konkretisierung sind uns aber Verfremdung und Distanz. In «La fedeltà premiata» führen wir die Protagonisten in eine Experimentalanordnung hinein – das entspricht genau der Dramaturgie des Librettos –, die das Grundthema der Oper spiegelt. Und dieses Thema lautet: Treue wird bestraft, Liebe ist immer in Bewegung und damit «frei». Das sind Utopien, die vor kurzer Zeit vital und überall präsent waren und die noch immer funktionieren. Allerdings trägt eine Freiheit, die verordnet ist und notfalls auch erzwungen werden muss, den Keim ihres Untergangs bereits in sich.

Bei Haydn liegt die Sache einfacher, hier wird aufgrund eines äußeren Verbotes «frei» geliebt, bis die Göttin kommt und dem frivolen Treiben ein Ende setzt. Und wieder ist Idylle.

Haydns Monster, das treue Liebe verbietet, das ist in unserer Lesart des Stücks das Kollektiv, das keine Abweichung duldet. Kategorien wie Treue, Stabilität, Individualität zählen in dieser Welt nicht, der Einzelne hat sich dem Ganzen unterzuordnen. Das wird eingefordert von allen, und man macht dabei auch vor Vergewaltigung und Mord nicht halt. Wenn ein Paar im Blutkreislauf der freien Liebe ein Gerinnsel bildet, eine Insel des Privaten an einem Ort, der alles und jedes öffentlich haben will, dann wird erbarmungslos zugeschlagen, die Hetzjagd beginnt. Haydn löst diese Konstellation unvermittelt von außen: plötzlich ist Friede und Entwarnung, die zügellose Gesellschaft ist wieder zivilisiert. Die zwangsglücklichen Menschen dürfen nun wirklich glücklich werden.

Und in Ihrer Inszenierung?

Wir legen einen Akzent darauf, dass der Anfang vom Ende bereits im Sektensystem selbst liegt – es höhlt sich von innen her aus, indem es die Menschlichkeit der Menschen verfehlt, was in der Musik ganz deutlich zu hören ist, denken Sie an Celias und Filenos Arien, an das (einzige!) Duett im dritten Akt. Soviel musikalische Liebeswahrheit sprengt alle Muster des «anythinggoes» und der «freien Liebe». Was nach der Auflösung der Sekte wieder inthronisiert ist, ist allerdings nicht unbedingt Idylle, eher Realität. Zwänge werden durch andere Zwänge ersetzt, das versuchen wir am Ende der Oper deutlich zu machen. Auch wenn alles wieder in den richtigen Fächern sitzt und Treue als Ideal fungiert – Haydn würde sagen: belohnt wird –, bleibt eine Ambivalenz. Und man versteht plötzlich auch die Sehnsucht, die die Menschen überhaupt in die Sekte trieb. Beide Welten haben etwas für sich. Denken Sie an Goethes «Tasso»: sein Leitsatz, seine nostalgische Sehnsucht gipfelt im Satz: Erlaubt ist, was gefällt. Die Prinzessin weist ihn in die Schranken und postuliert: Erlaubt ist, was sich ziemt. Wer hat recht?

Sie sprachen von einer Experimentalanordnung, in die Sie die Protagonisten führen. Wie sieht das im Einzelnen aus?

Die Ausgangslage lautet: Alle dürfen alles, oder eben: Erlaubt ist, was gefällt. Wie sähe unser Leben dann aus? Die Sekte ist ein Ort, wo man das durchspielen kann. Auch die Entwicklungen innerhalb der 68er-Bewegung zeigten nach einiger Zeit, dass selbst die zwangloseste Gesellschaft um Zwänge, Konventionen und Hierarchien nicht herumkommt. In der Sekte heißt das zum Beispiel, dass statt Status- und Besitzhierarchien die Sexualhierarchie Platz greift. Sie funktioniert ganz einfach und brutal nach der Rangliste der sexuellen Anerkennung. Der marktwirtschaftliche Konkurrenzkampf wird letztlich bloß ausgedehnt auf eine neue Kampfzone, den menschlichen Körper. Wer sexuell erfolglos ist, wird abgedrängt, in «La fedeltà premiata» am deutlichsten Lindoro. Das schöne freie Liebesleben ist nichts als ein Leben unter den verschärften Konkurrenzbedingungen der totalen Deregulierung. Haydns Musik zeigt dann, dass sich die Leidenschaften nicht  so einfach verrechnen lassen. Bei ihm wird jede Arie zur Gesetzesübertretung. Das wirkt anfangs komisch und heiter, wird aber zunehmend ernst für alle.

Wie bewegen sich die einzelnen Protagonisten in dieser Welt oder Nicht-Welt?

Ganz verschieden, je nach ihrer Bühnenbiographie. Das Geschwisterpaar Amaranta und Lindoro leistet sich aus Wohlstandsüberdruss eine Art Seelen-Wellness, beide kommen aber bald an ihre Grenzen. Perrucchetto, der ebenfalls aus besseren Kreisen stammt, personifiziert die freie Liebe selbst, wird aber gerade deshalb auch zum Sklaven seiner Triebe – und ist damit unfreier als alle andern. Fileno ist der einzige «richtige Mann» im Stück, der immer in innerer Opposition bleibt und treu an Celia festhält, die sich aus Trauer und vielleicht doch auch aus jugendlicher Labilität dem Lebensentwurf der Sekte angenähert hat – auch sie hält aber innerlich immer Abstand und überdauert seelisch alle Anfechtungen. Melibeo ist ein windiger und egoistischer Unternehmer in Seelensachen, eine Art Oberpriester seiner Religionsfiliale; seine Assistentin Nerina gerät durch ihre Flatterhaftigkeit in innere Nöte und bleibt letztlich alleingelassen mit ihren Konflikten. Bis dann am Schluss die Göttin erscheint und das Experiment für beendet erklärt. Oder besser: es durch ein anderes ersetzt. Das neue Experiment heißt: La fedeltà premiata, die belohnte Treue.

Und die Moral von der Geschichte?

Natürlich gibt es keine. Die monströse Welt, in der alles Private abgeschafft, das Intimste an die Öffentlichkeit gezerrt wird, hat ihre Zähne gezeigt. Man sieht, dass auch das Paradies der Freiheit den Zug zur Diktatur hat, dass hehre und große Ziele unweigerlich zur Geißel werden. Und man fragt sich am Ende mit Botho Strauss: Ist nicht jedes Tabu besser als ein zerstörtes?

Das Gespräch führte Stefan Rissi