RINALDO

Eine Oper für London

Als Georg Friedrich Händel im Winter 1710 in London eintraf, plante der 25-jährige Hallenser nichts weniger, als der italienischen Oper einen festen Platz im Kulturleben der seinerzeit größten Stadt Europas zu sichern, deren Opernkultur nach dem unerwartet frühen Tod Henry Purcells im Jahre 1695 zu zerfallen drohte. Mit seinem «King Arthur» und «The Fairy Queen» hatte Purcell jenen Typus zur Vollendung geführt, der im späten 17. Jahrhundert die Oper in England prägte: Schauspiele mit spektakulären Bühneneffekten und ausgedehnten Musikeinlagen.

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts sind dann einige Versuche zu verzeichnen, englischsprachige Opern im italienischen Stil zu schreiben, doch scheiterten diese letztlich am Unwillen der berühmten, dafür engagierten italienischen Sänger, in einer anderen als ihrer Muttersprache zu singen. Daraufhin ging man dazu über, italienische Opern zu bearbeiten, d.h. die Rezitative ins Englische zu übersetzen, damit die Zuhörer der Handlung halbwegs folgen konnten. Allerdings scheint die Qualität dieser solcherart aufgeführten Werke nicht sehr hoch stehend gewesen zu sein.

Es war der mit Händel fast gleichaltrige Aaron Hill, der in der Saison 1710/11 die Leitung des Queen’s Theatre Haymarket übernommen hatte, der das Problem auf den Punkt brachte: dass nämlich frühere italienische Opern in London «für Geschmäcker und Stimmen komponiert waren, die sich von denen unterschieden, die auf den englischen Bühnen singen und die sie anhören sollten». Auch fehlten «die Maschinen und Dekorationen, die der Darbietung solch große Schönheit verleihen sollte». Zur Eröffnung des Queen’s Theatre unter seiner Leitung, für die er sich der Mitarbeit Händels versichert hatte, griff er deshalb selbst zu Feder, um «ein Drama zu verfassen, das durch Zwischenfälle und Leidenschaften unterschiedlichster Art der Musik die Gelegenheit gibt, Vielfalt und außerordentliche Ausdruckskraft zu zeigen, das Auge mit den schönsten Dekorationen zu erfreuen und den Sinnen gleichermaßen Vergnügen zu bereiten.»

Das Szenario, das Hill entwarf, beruht auf ausgewählten Episoden aus dem Epos «La Gerusalemme liberata ovvero Il Goffredo» von Torquato Tasso, in dem dieser 1581 die Geschichte von der Liebe der sarazenischen Zauberin Armida zu dem Kreuzritter Rinaldo schilderte. Allerdings war schon für Tasso, der die ersten Skizzen dieses Werks als 15-jähriger niederschrieb, der Kreuzzug von 1099 nur Metapher für die Entwicklungen seiner eigenen Zeit. Als glühender Katholik von der Reformation abgestoßen, gestaltete er einen neuen Kreuzzug, diesmal gegen die Protestanten. Dabei bediente er sich beliebter Beigaben wie Zauberinnen, Ritter, verwunschener Paradiese und Abenteurer, um seinem Drama Aufmerksamkeit zu verschaffen. Dieses erfreute sich dann besonders im Zeitalter des Barock großer Beliebtheit, bot es doch mit Armidas Zauberreich, aber auch dem Zusammenprall zweier feindlicher Mächte im Kampf um die alleinige Weltherrschaft ausreichend Gelegenheit zu spektakulären Szenen.

Hills Szenario wurde dann von Giacomo Rossi zu einem Libretto ausgearbeitet, der im Vorwort des gedruckten Textbuches über die Zusammenarbeit mit Händel berichtet: «Hier, lieber Leser, legen wir das Ergebnis weniger Abende vor. Und obwohl es in der Nacht geboren wurde, ist es doch nicht die totgeborene Frucht der Dunkelheit, sondern wird sich als echtes Kind des Apollo erweisen. Erleuchtet mit einigen Strahlen vom Parnassus. Die Eile, mit der wir es ans Licht brachten, war verschuldet durch mein Bemühen, einen hohen Adel durch ein Werk ungewöhnlicher Art zu erfreuen. Und so liess ich mich auf einen würdigen Wettstreit ein (nicht in Bezug auf die Vollkommenheit der Oper, sondern lediglich die Kürze der Zeit betreffend). Denn Mr. Haendel, der Orpheus unserer Zeit, gab mir, während er die Noten schrieb, kaum Muse, die Worte zu Papier zu bringen. Zu meiner größten Verwunderung sah ich eine ganze Oper durch dieses erstaunliche Genie in nur zwei Wochen in Musik gesetzt, und dies in größter Vollkommenheit.»

Und es ist unzweifelhaft der Vollkommenheit von Händels Musik zu verdanken, die «Rinaldo» zu einem unerhörten Erfolg werden ließ. Denn die im Libretto vorgesehenen Bühneneffekte, mit denen die Autoren durchaus auch auf die Aufmerksamkeit des Publikums zielten, scheinen in der Durchführung eher unspektakulär ausgefallen zu sein. So war im «Spectator» zu lesen: «Der König von Jerusalem ist gezwungen, zu Fuß aus der Stadt zu kommen, anstatt mit einem von weißen Rossen gezogenen Triumphwagen, wie mein Libretto mir versprach, einzuziehen. Und während ich erwartete, dass Armidas Drachen auf Argante losschießen sollte, sah ich, dass der Held gezwungen war, auf Armida zuzugehen und ihr aus ihrer Kutsche zu helfen. Es gab auch nur ein bisschen Donner und Blitz. An dieser Stelle muss ich dem Jungen Gerechtigkeit widerfahren lassen, der die beiden gemalten Drachen lenkte und sie Feuer und Rauch spucken liess. Er verspritzte sein Kolophonium genau im richtigen Masse und zum richtigen Zeitpunkt, so dass ich grösste Hoffnungen hegte, dass er eines Tages ein ausgezeichneter Schauspieler würde. Nur zwei Dinge fehlten an der Vollkommenheit des ganzen Vorgangs: er muss seinen Kopf ein wenig niedriger halten und seine Kerzen verstecken. Was die Bühnenmechanik und Szenerien angeht, so vergaßen die Bühnenarbeiter, ihre Seitenkulissen auszutauschen, und uns präsentierte sich ein See-Panorama inmitten eines wunderschönen Hains, und ich muss sagen, dass ich nicht wenig überrascht war, einen jungen, gut gekleideten Mann mit Langhaarperücke mitten im Meer auftreten und eine Prise schnupfen zu sehen, ohne irgendwelche Besorgnis, dabei zu ertrinken.»

Bei der Erarbeitung des Regiekonzepts zu Händels «Rinaldo» war es für Claus Guth und Christian Schmidt klar, dass die eigentliche Brisanz des Stoffes nicht in der eher konventionell als Rahmenhandlung funktionierenden Kreuzzugs-Thematik inklusive der Eroberung Jerusalems liegt, sondern in den Auswirkungen, die u.a. die Kriegshetzerei der «Alten» auf Rinaldo wie auch die anderen Beteiligten hat und zu den verwirrenden, hoch komplexen Spannungen der im zweiten Akt geschilderten Begegnungen führt. Da ist dann auch der Blick auf Händels Umgangsweise mit dem Mythos aufschlussreich: etwa in der hinzugedichteten Figur Almirena, der Zerrissenheit der allmächtigen Zauberin Armida, aber auch der Sehnsucht des nach seiner Identität suchenden Rinaldo – mythologisch bekanntermaßen eine «Kampfmaschine» – nach Frieden und Liebe. Ohne Händels tiefen Griff in die Zauberkiste verleugnen zu wollen, schien es doch geboten, für einen spannenden, heutigen Theaterabend, einige Arien zu streichen und auch in den Rezitativen Straffungen vorzunehmen, um zum Kern der Geschichte vorzudringen, in dem Händel schon in dieser frühen Oper tiefschürfende Psychogramme seiner Helden, oder besser, Antihelden, gelungen sind, worauf der Fokus der Inszenierung gerichtet sein sollte.

Übertragen wird deshalb der die Geschichte von Rinaldo flankierende Kreuzzug auf Jerusalem – Prototyp vieler wenn nicht aller nachfolgenden Kriege – in unsere Zeit; nicht zufällig wird beispielsweise der jüngste Krieg der USA gegen den Irak mit «Kreuzzugsmentalität» erklärt. Der schon bei Händel fast absurde Zusammenprall von heidnischer und christlicher Welt, die sich doch so ähnlich sind, lässt sich auf jeglichen Konflikt zwischen zwei Weltmächten übertragen, ob es nun um religiöse, territoriale oder wirtschaftliche Interessen geht.

Christian Schmidt entwarf dafür eine Bühne, die zunächst ganz konkrete Räume assoziieren lässt: eine Hotellobby, ein Transit-Raum, eine Abflughalle – Orte multikultureller Begegnung. Doch ebenso wie Händel uns auf eine Reise seiner Protagonisten mitnimmt bis hin in ihr eigenes Unterbewusstsein, verwandelt sich die Bühne mehr und mehr in einen Unort, lässt Fantasiewelten und Alpträume aufscheinen, um am Ende der Reise wieder in die Realität zurückzukehren.

Jens-Daniel Herzog, der erst kurz vor Probenbeginn für den erkrankten Claus Guth eingesprungen ist, ließ sich gerne auf das bereits erarbeitete Szenario ein, das ihm jedoch noch genügend Freiraum für seine eigene Regiehandschrift lässt. Der gesetzte Rahmen eines globalen Wirtschaftskrieges zwischen den beiden Parteien zieht sich für ihn konsequent auch durch den zweiten Akt, denn es sind die Auswirkungen der im ersten Akt vorgeführten psychologischen Kriegsführung, die mit allen Mitteln arbeitet, sei es Gewalt oder Verführung. Die Schwächen des Helden werden ausgeforscht und strategisch genutzt. Wenn Rinaldo zu Beginn die versprochene Heirat mit Almirena einfordert, wird diese sofort gleichsam als Lockvogel eingesetzt, um ihm das Ziel, für das es sich weiter zu kämpfen lohnt, vorzuführen. Auch Armida erkennt das Potential Almirenas, um Rinaldo in ihr Lager zu locken. Der Zauber, den sie ausübt, bedingt die Wahrnehmungsverschiebung ihrer Opfer, die diese auch nach ihrer Befreiung noch nachhaltig trübt und Rinaldo, obwohl er nun mit der Geliebten wieder vereint ist, noch einmal in den Kampf treibt. Doch auch Armida wird Opfer ihres Spiels mit Identitäten.

Daneben will Jens-Daniel Herzog aber den Spaß, den schon Händel und seine Mitstreiter daran hatten, ihr Publikum mit überraschenden Wendungen, wechselndem Kriegsglück der beiden Parteien und dem Einsatz von Wunderwaffen zu unterhalten, zusammen mit dem Choreographen Ramses Sigl, der großen Anteil an der Zürcher Neuproduktion hat, auch dem heutigen Theaterbesucher nicht vorenthalten, ergibt sich doch dadurch auch die erforderliche Fallhöhe zu jenen Arien, in denen Händel tief ins Innerste seiner Figuren hineinleuchtet. Subtil schildert der Komponist die Herzensverwirrungen der beiden Paare im zweiten Akt, die Jens-Daniel Herzog mit jenen in «Così fan tutte» vergleicht. Und auch wenn die Worte des Librettos sowohl bei Almirena wie auch bei Rinaldo von Standhaftigkeit zeugen, scheinen die Herzenstöne, die in den Momenten der Begegnung mit dem jeweils Fremden zum Klingen gebracht werden, eine andere Sprache zu sprechen.

Während Händel Rinaldo in all seiner Verletzlichkeit zeigt und schon in diesem frühen Werk damit einen der für ihn so berühmten Antihelden schafft, bringt er auch der Zauberin, die vereinbarungsgemäß das Böse zu verkörpern hat, tiefe Sympathie entgegen. Das damalige Publikum, dem Tassos Versepos noch höchst vertraut war, war sich vermutlich dessen bewusst, dass das eigentliche Traumpaar Armida und Rinaldo war. Doch natürlich ging es nicht an, dass eine so starke Frau am Ende den Sieg davon trägt. Es bedurfte eines als positiv zu bewertenden Frauenbildes, das den Helden am Ende belohnt. Doch Händels Trauer über den Machtverlust seiner Zauberin ist zumal in ihrer großen Szene des zweiten Aktes unüberhörbar. Und mit einem gewiss ironisch gemeinten Seitenhieb verweist er darauf, dass es mit den von Tugend, Standhaftigkeit und Mut geradezu triefenden Bekenntnissen der Partei um Goffredo nicht weit her ist, wenn auch diese sich magischer Kräfte versichern muss, um den Gegner zu besiegen. Ein Verfahren, dessen sich noch bis in unsere Gegenwart hinein aufgeklärte Machthaber bedienen, indem sie sich beispielsweise des Wissens von Astrologen versichern.

Grundsätzlich scheint es dem Komponisten ein Anliegen gewesen zu sein, keiner der beiden Parteien den Vorzug zu geben, auch wenn am Ende das «Gute» zu siegen hat. Der dritte Akt bedient sich fast filmischer Mittel, wenn in immer kürzeren Sequenzen die Aktivitäten der beiden Truppen gegeneinander geschnitten werden, um in der gerade mal 90 Sekunden dauernden, alles entscheidenden «Battaglia» zu gipfeln. Rasant, wenn nicht gar eilig, wird die Geschichte zu Ende erzählt: Argante ist besiegt, Armida tritt der Gegenpartei bei, alle sind versöhnt und feiern den glücklichen Ausgang: Dauer 80 Sekunden. Dass Händel sich ausführlicher musikalisch «zu freuen» weiß, ist bekannt. 

Ronny Dietrich