PIQUE DAME
Unser Leben – ein Spiel
«Was ist unser Leben? Ein Spiel» lautet Germans Fazit im 3. Akt, als er sich im Besitz jener Glücks-Chiffre wähnt, die es ihm erlaubt, sein Schicksal selbst bestimmen zu können. Dass er auf dem Weg, diese zu erjagen, bereits über Leichen gegangen ist, scheint seinem Bewusstsein entschwunden zu sein. Die Macht der Zahlen, die Menschenleben vernichten – ein faszinierendes und hochaktuelles Thema für das Inszenierungsteam mit Regisseur Jens-Daniel Herzog, Bühnenbildner Bernhard Kleber und Kostümbildnerin Ann Poppel. Denn auch wenn der Mythos von den Zahlen so alt ist wie die Welt, so bestimmen sie heute in immer größerem Ausmaße unser Leben. Nicht nur in den verschiedenen Formen des Glücksspiels, sondern auch in anderen Bereichen beherrschen immer ausschließlicher Zahlen und Codes unsere Entscheidungen. Der Traum der Menschheit, mit einem bestimmten System, einer Zahlenkombination zu Reichtum zu gelangen, beinhaltet für Jens-Daniel Herzog auch die Möglichkeit, gewissermaßen die Welt in den Griff zu bekommen, das Schicksal zu lenken. Denn mit Sicherheit auf die richtigen Zahlen zu setzen, hieße in letzter Konsequenz, einen Blick in die Zukunft getan zu haben.
Mit welcher Klarheit Tschaikowski vor über hundert Jahren diesen Blick in die Zukunft riskiert hat, schonungslos die Konsequenzen dieser Art von Götzendienst schildert, verblüfft. Vordergründig betrachtet, mag es sich bei Tschaikowskis «Pique Dame» um jene Ausstattungsoper handeln, die dem Direktor des St. Petersburger Theaters vorschwebte und auf dessen Wunsch die Autoren der Oper die Handlung vom 19. in das 18. Jahrhundert zurückverlegten, in die Epoche der letzten Regierungsjahre Katharinas II. Dass es Tschaikowski aber nicht um eine Hommage an das Goldene Zeitalter von St. Petersburg ging, sondern um die Konfrontation des Menschen mit seinem Schicksal verraten die Partitur und das Libretto in jedem Moment. Tschaikowski komponierte mit seiner «Pique Dame» ein in sich vollkommen geschlossenes System, das in Bernhard Klebers Bühnenraum seine Entsprechung findet. Die klar gegliederte Architektur zitiert verschiedene Orte und Epochen und spielt mit ihnen ebenso wie Tschaikowski in seiner Partitur, um gleichzeitig die Ausweglosigkeit und das Gefangensein Germans von seiner idée fixe niemals aus den Augen zu verlieren, wie sie der Komponist schon im Vorspiel illusionslos vorführt. Einzig eine nach oben und unten nicht begrenzte transparente Säule durchschneidet den Raum vertikal als Hoffnungsträger der romantischen Leidenschaften und des Geheimnisvollen.
Der «Geheimcode» 3 – 7– As (=1) – so Jens-Daniel Herzog – ist als Konstruktionsprinzip ständig präsent: Die Oper besteht aus drei Akten, sieben Bildern und einem Vorspiel; das Drama konzentriert sich auf das Geheimnis von drei Karten, die Gräfin muss einen Dritten treffen, nach Surin hat Hermann drei Untaten auf der Seele; die Schlussphrase von Tomskis Ballade – «drei Karten, drei Karten, drei Karten» – erklingt in der Oper sieben Mal usw. Ein Indiz, dass sich alles aus der Perspektive Germans abspielt, denn nichts anderes bestimmt sein Denken von Anfang an. «Er war dem Spiele in der Seele völlig ergeben» heißt es bei Puschkin. Die Begegnung mit Lisa ist nur ein Auslöser, sich seiner wahren Disposition Schritt für Schritt anzunähern. Er bezeichnet sie als Engel, Göttin, will ihren Namen gar nicht wissen – wobei er sich hier gewissermaßen musikalisch verspricht, denn nicht das Liebesmotiv führt ihn hier, sondern das Motiv der Gräfin, dem Kartenmotiv verwandt. Immer wieder kommt es zu Verwechslungen bzw. Gleichsetzungen von Lisa und Gräfin, d. h. zur Vertauschbarkeit von Liebe und Tod.
Hermann baut sich eine Kette: Ich liebe eine mir Unerreichbare, dazu brauche ich Geld, um Geld zu bekommen, muss ich das Geheimnis der drei Karten kennen, kenne ich das Geheimnis, muss ich spielen. Die Einflüsterungen der anderen – Selbstsuggestionen? – befördern diesen Weg gleichfalls in einem Dreischritt: Zwei gegenläufige Bewegungen, an deren Ende der Entschluss zum «alles auf eine Karte setzen» steht. Tschaikowski mischt seine Karten virtuos. Der Zuhörer befindet sich beständig in der Schwebe zwischen einer romantischen Tragödie und dem Alptraum eines zunehmend in den Wahnsinn Getriebenen. Jedes Detail der Handlung lässt sich auf German beziehen, dazu gehören auch die sogenannten Genreszenen. Das Soldatenspiel der Kinder und der Sturm im ersten Akt ebenso wie das Intermezzo im zweiten Akt, das Germans Zerrissenheit zwischen Liebe und Spielleidenschaft als idyllisches Schäferspiel mit glücklichem Ausgang vorführt. Diese Balance zu bewahren, die Ann Poppel auch durch Akzentuierung in ihren Kostümen aufgreift, strebt Jens-Daniel Herzog in seiner Neuinszenierung an.