PALESTRINA

Die Frage nach dem Auftrag von Kunst

Dirigent Ingo Metzmacher hat eine sehr subtile Beziehung zu Hans Pfitzner: einerseits war sein Vater, der Cellist Rudolf Metzmacher, noch persönlich mit diesem bekannt; andererseits lehnte Ingo Metzmacher ihn in seiner Jugend zunächst ab als jemanden, der mit den Nazis zumindest sympathisiert hatte. Ein Zufall brachte ihn dazu, seinen Standpunkt neu zu überdenken: als ihn im Hause eines Freundes die dort laufende Musik beeindruckte und er erfuhr, dass es sich um ein Orchesterlied Pfitzners handelte, erwachte sein Interesse für dessen musikalisches Werk. Besonders fasziniert Metzmacher dabei die Frage nach dem Verhältnis zwischen Verharren in althergebrachten Traditionen und dem Ausbruch nach vorn, hin zu neuen Dingen – ein Konflikt, dem sich jeder Kunstschaffende früher oder später stellen muss, und den Pfitzner in seiner Musik austrägt. 

Genau deshalb entschied Metzmacher sich auch dafür, Pfitzners «Von deutscher Seele» am Tag der deutschen Einheit aufzuführen, was ihm einige Kritik von Seiten derer einbrachte, die Pfitzner als Nazisympathisanten einstufen. Ohne die Rolle des Pfitzner-Apologeten spielen zu wollen, weist Metzmacher darauf hin, dass man zwischen dem theoretischen Werk und der musikalischen Qualität unterscheiden können muss: warum sollte man Pfitzner als persona non grata behandeln und auf großartige Musik verzichten, während man z. B. Richard Wagner – der sich wesentlich antisemitischer äußerte – selten seine politischen Ansichten vorhält? Eine solche Schwarz-Weiß-Malerei wird weder Pfitzners Persönlichkeit, noch seinem musikalischen Schaffen gerecht. Denn paradoxerweise erweist sich Pfitzner in seinen Kompositionen als wesentlich moderner, als es sein theoretisches Werk vermuten lassen würde: während er in seinen Schriften gegen die Moderne hetzt und ein eher altmodisches Weltbild vertritt, spiegeln sich in seiner Musik genau die Zeitfragen wider, auf die z.B.

Richard Strauss damals ebenfalls mit seinem Stil reagierte. Im «Palestrina» wird diese Problematik von Tradition und Aufbruch namentlich durch die Figur des Silla, Palestrinas Schüler, verkörpert. Gerade Pfitzners eigene Sehnsucht nach einer Aussöhnung von Vergangenheit und Zukunft gibt seiner Musik ihre große Intensität, wie Kunst überhaupt für den Dirigenten nur dann authentisch ist, wenn sie von dem spricht, was den Menschen wirklich berührt. Anstatt nun Pfitzner stets sein theoretisches Werk vorzuhalten, mit dem er sich selbst im Grunde nur geschadet hat, ist es darum vielmehr angebracht, seine Musik sprechen zu lassen – drückt sie doch den inneren Konflikt eines Menschen aus, der – einer traditionellen Weltordnung verhaftet  –, sich letztlich zwischen alle Stühle gesetzt hat.

Spannend für den Dirigenten ist schon die vorbildlose formale Anlage der Oper. Als er vor der ersten Probe dem Orchester den Inhalt des ersten Aktes erzählte, erntete er erstauntes Gelächter mit der Bemerkung, dass nun noch zwei Akte folgen. Mit dem Schreiben der Messe schien die Geschichte doch bereits abgeschlossen. Genau dieser Umstand wurde Pfitzner bereits nach der Uraufführung angekreidet. So befand Paul Bekker: «Es ist schwer und schmerzlich auszusprechen angesichts solcher Höhenkunst – aber mit diesem Schluss des ersten Aktes ist das Werk zu Ende; wenigstens soweit es dramatische Gestalt sein will.»

Doch für Ingo Metzmacher liegt gerade in der Fortführung dieser mächtigen Exposition der Reiz des Werkes, dessen Form Pfitzner selbst als Triptychon bezeichnet hat: «So sah ich denn, ehe ich noch genau wusste, was in den einzelnen Akten zu geschehen hatte, ein Triptychon als Form: einen ersten und dritten Akt für die eigentliche Palestrina-Welt, und in der Mitte das Bild bewegten Treibens der Außenwelt, die dem stillen Schaffen des Genies immer feindlich ist. Dieses konnte nur das Konzil sein, der Ausgangspunkt der kunstfeindlichen Beschlüsse.»

Den zweiten Akt nennt Metzmacher eine Art Scherzo, in dem das Zerrbild einer Gesellschaft vorgeführt wird und dessen musikalische Sprache sich von der des ersten Aktes völlig unterscheidet. Ohne jegliche Verklärung oder Erhöhung ist sie konkret, persiflierend, weltlich. Der dritte Akt, für den Dirigenten ein Epilog, Requiem oder Abgesang, verweist dann wieder stark auf den ersten zurück, ist aber noch dichter gewebt. So ergibt sich im gesamten Verlauf eine permanente Zuspitzung und Konzentration hin auf einen sehr berührenden Abschied, vergleichbar für Metzmacher nur dem Ende von Debussys «Pelléas et Mélisande».

Die Tatsache, dass Pfitzner der Auseinandersetzung über den Stellenwert der Kunst einen ganzen Akt widmete, in dem er drastisch die Überheblichkeit der Machthaber schildert und hervorhebt, wie wenig Musik im großen politischen Kontext bedeutet, lässt darauf schließen, wie sehr ihn dieser Umstand beschäftigte. Und fast mag es paradox anmuten, dass gerade dieser zweite Akt so avanciert geriet, dass ihn das Sprechtheater für sich vereinnahmte und losgelöst aus dem Gesamtzusammenhang auf die Bühne brachte.

Ein ganz wesentlicher Punkt ist für Ingo Metzmacher auch die Tatsache, dass Pfitzner bei «Palestrina» sein eigener Librettist war. Die Symbiose von Text und Musik kennen wir so nur aus Wagners Musikdramen, und auch wenn man sich an die Sprachlichkeit erst gewöhnen muss, verbindet sie sich doch unauflöslich mit der Musik, die mit ihren ungewöhnlichen harmonischen Wendungen immer wieder überrascht. Fraglos überwältigt der «Palestrina» schon beim ersten Hören, umso erstaunlicher ist es, dass sich Pfitzner eher karger Mittel bedient. Besonders ohrenfällig wird das an jenen Stellen, an denen von dem «neuen Stil» die Rede ist, dem Palestrinas Schüler Silla zuneigt und den Pfitzner ironisch in Richard Strauss’scher Manier komponiert. Aber, so der Dirigent, wahre Schönheit findet sich nur im Kargen.

Während des intensiven Studiums wächst immer mehr der Respekt und die Begeisterung für eine Partitur, die mit größtem handwerklichen Können gearbeitet ist. Was intuitiv anmuten mag, entpuppt sich als sehr klar strukturell gedacht, behält man die motivischen Verzweigungen und Querverbindungen im Ohr. Ingo Metzmacher verweist als Beispiel auf jenes Motiv, mit dem die Oper endet, sich dem Hörer aber schon im Vorspiel zum ersten Akt als bedeutend einprägt. In seinen verschiedenen Ausprägungen begegnet es uns immer wieder dann, wenn von Verlust oder Vergänglichkeit die Rede ist. Sehr einprägsam ist auch das der verstorbenen Frau Palestrinas zugeordnete Motiv, das prominent im ersten Akt vertreten ist und kurz vor Schluss in einem Duett zwischen Solo-Geige und Solo-Cello zu vernehmen ist.

Größte Aufmerksamkeit bei den Proben gilt der Frage nach den richtigen Tempi, denn es besteht leicht die Gefahr, die von Pfitzner ohnehin genau kalkulierten und komponierten emotionalen Zustände zu überhöhen. Hilfreich sind da die vom Komponisten überlieferten Eintragungen in der Partitur, die häufig das Dirigieren in halben Takten einfordern oder vor dem Nachgeben der Tempi warnen. Man muss – so Ingo Metzmacher – das Stück sehr konkret erzählen, weniger ist auch hier in jedem Falle mehr.

Pfitzners Oper «Palestrina», insbesondere die Figur des alternden Komponisten, der sich

in einer Schaffenskrise befindet, weil er an den Sinn seiner Kunst nicht mehr glaubt, ist

stark autobiografisch geprägt: auch Pfitzner fühlte sich zu seiner Zeit als unverstandener Schlussstein einer zu Ende gehenden Epoche. Der lange Zeit als altmodischer Romantiker verschriene Pfitzner wirft dabei jedoch eine Frage auf, die Regisseur Jens-Daniel Herzog ins Zentrum seiner Inszenierung stellt: die Frage nach dem Auftrag von Kunst.

Für Herzog stellt Pfitzners Oper den Selbstversuch eines Künstlers dar, dessen Trauer über den Wertverlust der Kunst darin zum Ausdruck kommt. Ähnlich wie in Goethes «Torquato Tasso» begegnen wir hier der unerfüllten Sehnsucht des Künstlers, die Kunst gleichermaßen identitätsstiftend im Mittelpunkt der Gesellschaft zu sehen.

Gemeinsam mit seinem Bühnen- und Kostümbildner Mathis Neidhardt verortet Jens-Daniel Herzog nicht nur den ersten und dritten, sondern auch den zweiten Akt, dem Konzil in Trient, in der Wohnung des Komponisten, dessen Sehnsucht nach dem gesellschaftlichen Auftrag sich alsbald zum Alptraum steigert: in der Gestalt des Kardinals Borromeo tritt dem an sich und seiner Schaffenskraft zweifelnden Palestrina sein verselbständigtes Über-Ich entgegen, das ihn nach Art des begeisterten Funktionärs, der ein Kunstwerk bestellt, um selbst als kunstliebender Ästhet dazustehen, mit allen Mitteln – notfalls auch mit Gewalt – zum Schreiben der neuen Messe bringen will. Von Anfang an dringt dabei die Verachtung durch, die Palestrina von Seiten der Machthaber, wie Borromeo sie repräsentiert, entgegenschlägt; für sie ist er lediglich ein Musikus, der gefälligst etwas Bestelltes abzuliefern hat, und für die Palestrinas Weigerung, die geforderte Messe zu komponieren, ein Schlag ins Gesicht ist.

Der Traum vom gesellschaftlich legitimierten Auftrag gerät zum Alptraum: Kunst spiegelt nicht nur die Gesellschaft wider, die hinter ihr steht, sondern ist auch dem Druck ausgeliefert, den diese ausübt.

Dieser Druck setzt sich mit der Erscheinung seiner Vorbilder, vor denen Palestrina sich wie vor einem Tribunal befindet, fort. Doppelgänger seiner selbst, aber mit den Gesichtern seiner Hausgötter, fordern sie von ihm eine erneute Anstrengung, ein neues Werk. Wenn Palestrina am Ende doch noch seine Messe schreibt, so geschieht dies nur nach einem vorherigen Initiationsritus, in dem er alles Alte von sich abstreifen muss, sowie – in einer Art Fortsetzung von «Der ferne Klang» – dem tröstenden Musenkuss, den ihm die Erscheinung seiner verstorbenen Frau, auf surreale Weise ebenfalls verzehnfacht, spendet.

Doch damit ist Palestrinas Alptraum noch nicht vorbei: im zweiten Akt macht sich der Vatikan in seiner Wohnung breit und stimmt in langwierigen Sitzungen über strittige Fragen ab, wobei jeder der Teilnehmer – in Anlehnung an internationale Kongresse – hauptsächlich daran interessiert ist, selbst im Mittelpunkt zu stehen oder auf Kosten der Veranstalter eine schöne Reise zu machen. Aus der Konfrontation von Alltag und Würde – denn die ehrwürdigen Teilnehmer benutzen genauso Küche, Badezimmer und Toilette wie andere Sterbliche auch – ergibt sich das Groteske der Situation, die während des gesamten zweiten Aktes dem Alptraum Palestrinas entspringt.

Diesen Traum (scheinbar) positiv zu Ende zu führen ist Aufgabe Ighinos, Palestrinas Sohn, der in einer Art «Good bye, Lenin»-Situation im Verein mit Freunden und Nachbarn dem Vater höchste Anerkennung, inklusive den Besuch des Papstes vorgaukelt und so die Bedeutung des komponierten Werkes arrangiert.

Ronny Dietrich