ORLANDO

Jens-Daniel Herzog, derzeit Schauspielchef am Nationaltheater Mannheim, ist in Zürich zuletzt mit «Pique Dame» in Erscheinung getreten. Für die Vorbereitung von Händels «Orlando» hat er sich zunächst in Ariostos Renaissance-Epos vertieft und sich dann gemeinsam mit Ausstatter Mathis Neidhardt für eine sanfte Modernisierung des Stoffes entschieden: Die Handlung vollzieht sich in einer Art «Zauberberg»-Atmosphäre am Beginn des 20. Jahrhunderts. Diese Lösung belässt dem Zuschauer die historische Distanz, verschafft ihm daneben aber eine Vertrautheit, die den Weg zu neuer, direkter Betroffenheit ebnen soll. Der zeitlose, vom Weltgeschehen isolierte «Nicht-Ort» eines Sanatoriums ist zunächst die Übersetzung von Händels märchenhaft hermetischer Schäfer- und Ritterszenerie, lässt aber als Spielort viel Interpretationsfreiheit. Es handelt sich um eine Art Nobelhotel, eine ärztlich kontrollierte Erholungsstätte für «burn-out»-Geplagte, für kriegs- und lebensmüde Helden und Antihelden. Das labyrinthische Bühnenbild mit seinen fahrbaren Wänden stützt nicht nur den Geschehensfluss, es weckt mit seiner gediegenen, etwas abgewetzten Patina vielfältige Assoziationen wie das «Labyrinth der Seele» oder den ordnungsschweren Rationalismus im Weltbild Zoroastros. Es zieht und verwischt Grenzen, stiftet und zersetzt menschliche Beziehungsgeometrien, ohne dass der «unbewegte Beweger» – wenn es ihn denn gibt – jemals greifbar wird.

«Orlando» verstehen Herzog und Neidhardt – ähnlich wie «Così fan tutte», das sie in Mannheim inszeniert haben – als Experimentalanordnung: Unter den Augen der emotional unbetroffenen Überfigur Zoroastro entfaltet sich schrittweise die Liebesnot, Krankheit und Heilung Orlandos. Typisches Barocktheater also, das stets vom Experiment fasziniert war, unermüdlich die Grenze zwischen Wirklichkeit und Illusion umspielte und so die alte, immer neue Frage «Was ist der Mensch?» stellte. Als Arzt stehen Zoroastro genau wie dem «Magier» bei Händel undurchschaubare  Machtinstrumente zur Verfügung, die ihn schließlich zum «deus ex machina» qualifizieren, der das scheinglückliche Ende rettet. Andererseits gibt er sich als Wissenschaftler, als Fürsprecher von Ordnung, Maß und Kontrolle. Der «Wahnsinn» Orlandos interessiert ihn deshalb nicht als Leidensphänomen, sondern als Gefährdung einer Gesellschaft, deren Ideale Ruhm und Karriere sind, «Funktionstüchtigkeit» im weitesten Sinne. Die bei Händel vordergründig so wichtigen Naturelemente, die sich bei näherem Hinsehen meist als Metaphern für Verlust- und Absenzerfahrungen entpuppen, sind in der Inszenierung von Jens-Daniel Herzog und Mathis Neidhardt gezielt ausgespart. Vom Verzicht auf bildliche Umsetzung dieser Textur erhoffen sie sich eine emotionale Vertiefung und wollen, ganz buchstäblich, Raum für die berückende Gefühlskraft von Händels Musik schaffen.

Indes ist nicht nur Orlando im Wertekonflikt zwischen Liebe und Vernunft gefangen. Auch die anderen Figuren, die im Libretto etwas schematisch und typenhaft angelegt sind, haben in diesem Gefüge ihren je eigenen Ort und Sinn. Jens-Daniel Herzogs Regie verleiht ihnen deshalb nachdrücklich Charaktere, zeigt ihre Entwicklungen und inneren Potenziale auf. Solche «gesamtdramatische» Durchgestaltung des Erzählten über die Binnengrenzen des Werks hinweg sichert nicht nur einen gewissen Unterhaltungswert, sondern liegt auch in der Stoßrichtung von Händel selbst, der gerade in «Orlando» musikalisch die Grenzen von Arie und Rezitativ so sehr in Frage stellt, dass die Gattung weiträumig unterminiert ist. Dies verschärft sich noch durch den Einbau komischer Elemente, etwa in der Figur Dorindas. Gerade das doppelbödige, das «schrecklich schöne» Ende der Oper, das seinerseits die Grenzen zwischen heiterem und ernstem Genre fragwürdig macht, will Jens-Daniel Herzog daher in seiner vollen Offenheit und irritierenden Kraft wirksam werden lassen.

Stefan Rissi