LA FINTA SEMPLICE - Interview von Stefan Rissi
Jens-Daniel Herzog, das Bühnenbild zu Ihrer Inszenierung von «La finta semplice» zeigt zwei säuberlich getrennte Spielräume, die verschiedene Sozialsphären markieren, welche nach und nach ineinander übergehen. Hat diese Oper revolutionäres Potenzial?
Eine vorrevolutionäre Witterung wie etwa in «Le Nozze di Figaro» würde ich dem Werk nicht unterstellen. Ich würde eher von einem Kultur- und Habitustransfer sprechen, der zwischen zwei gesellschaftlichen Sphären stattfindet. Was passiert, ist das Aufeinandertreffen zweier Kulturen, einer zivil-bürgerlichen einerseits, einer soldatisch-nomadischen andererseits. Die eine ist durch eine oberflächlich gediegene Alltagskultur, auch durch Triebverdrängung und Affektkontrolle gekennzeichnet, die andere durch wildes Lagerleben, durch ungebändigte Sinnlichkeit sowie ständige Fremd- und Selbstgefährdung. Sexualität und Liebe, die natürlich in beiden Bereichen wohnen, bringen diese strikte Trennung in Gefahr und erzwingen eine Art Kulturkonflikt. Die einzelnen Personen zeigen plötzlich neue Seiten, die einen verlieren die Kontrolle, die andern – Simone und Fracasso – scheinen gezähmt.
Hält das doch eher leichtfüßige und episodisch organisierte Goldoni-Libretto so viel Stringenz und soziologischen Tiefgang aus?
Der Text ist vielleicht nicht auf der vollen Höhe dessen, was Goldonis revolutionäre Theatersprache in anderen Fällen geleistet hat, aber seine unglaubliche Könnerschaft ist dennoch überall spürbar, in der luziden Situationsgestaltung, im sicheren Sinn für Entwicklungen und Umschläge, und natürlich in der bissigen Art, vorgebliche Tugenden der öffentlichen Kritik und dem Verlachen preiszugeben, ohne dabei platt und unmenschlich zu werden.
War es für Sie wichtig, dass es sich bei der «Finta semplice» um eine Kinderoper im wörtlichen Sinn handelt, um das Werk eines Zwölfjährigen?
Ich hatte mit meinem Bühnenbildner Mathis Neidhardt zusammen zuerst ein Konzept entworfen, das mit Kindlichkeit und Naivität, mit den Problemen der Pubertät spielte: Das Ganze hätte sich dann unter Jugendlichen in einem Schulhaus abgespielt. Wir haben das aus verschiedenen Gründen verworfen, unter anderem deshalb, weil man auf den Aspekt der bedrohten Bürgerlichkeit bei dieser Oper kaum verzichten kann, und das funktioniert nur mit Erwachsenen. In jedem Fall ist man gut beraten, wenn man diese «Kinderoper» so ernst nimmt, wie jede Komödie es verdient. Samuel Beckett hat gesagt: «Man muss zum Äußersten gehen, dann wird Lachen entstehen». Man muss also zuerst einmal auf Oberflächenhumoristik verzichten, nicht direkt die Einladung zu Witz und Heiterkeit annehmen, sondern ganz sorgfältig und buchstäblich dasjenige herausarbeiten, was eigentlich passiert in dieser Oper. Das ist ja nicht einfach eine Typenkomödie, die Figuren lernen ganz eindeutig – sie lernen zum Beispiel, Liebe zu empfinden, und dass das mit der Preisgabe von Machtansprüchen zu tun hat. All diese feinen Bewegungen – Entwicklungen und Rückschläge – muss man sorgfältig nachzeichnen.
Und dann geschieht das Umgekehrte, dass das Komische ins Tragische umschlägt?
Genau das passiert in diesem Stück. Nicht im Sinne der griechischen Tragödie natürlich, aber doch so, dass wir es plötzlich mit atemberaubenden, gefährlichen, ja existenziellen Gefühlen und Gedanken zu tun haben, mit sehr vitalen Lebensveränderungen, mit Risiken, mit Irreversibilitäten, mit dem Aufbrechen sozialer und individueller Verkrustungen. Das ist in gewissem Sinn tragisch, diese Figuren von Mozart werden richtiggehend skelettiert, und zwar auf eine wechselhafte, sehr dynamische Art.
Trifft es zu, dass Komödien zu inszenieren für einen Regisseur das Schwerste überhaupt ist?
Im Schauspiel ist es jedenfalls schwer, gute Komödienregisseure zu finden. Ich habe selbst einige Erfahrung mit Komödien, ich habe unter anderem Shakespeare inszeniert, auch mehrfach Molière. Die Anforderungen an die situative und textliche, aber auch an die handwerkliche Genauigkeit sind bei der Komödie besonders groß. Mein Zugang ist natürlich auch bei der Oper primär derjenige über den Text, das kann nicht anders sein. Ich habe allerdings eine merkwürdige Erfahrung gemacht: Als Opernregisseur kann ich, je genauer und akribischer ich beim Wort bleibe, desto mehr Musik durchsetzen. Selbst wenn ich ganz bewusst versuche, von deren eigener Sprachlichkeit zunächst zu abstrahieren. Schauspieltechnisch gesprochen heißt dies auch, dass man die Sänger davon befreit, dasjenige spielen und verdoppeln zu müssen, was die Musik ohnehin schon «sagt». Das eröffnet neue Spieldimensionen, vor allem hinsichtlich der Spannung zwischen der Selbstwahrnehmung der Personen, wie sie in ihren Texten zum Ausdruck kommt, und dem Zusatzwissen, das die Musik über Figuren und Situationen transportiert. In diesen Belangen, im virtuosen Spiel mit der Vielsprachigkeit der Kunstform Oper, geht der spätere Mozart dann natürlich noch viel weiter als in der «Finta semplice». Hier ist es dafür umso interessanter zu sehen, wie sich Mozarts Eifer der Pflichterfüllung zunächst als Konventionalität kristallisiert, wie sich aber an der inneren Reibung dieser Kristalle bereits das Ringen um eine eigene Musiksprache kundtut. Da ist man dankbar, dass Mozart noch gute zwanzig Jahre länger gelebt hat.
Bei den Finali der «Finta semplice» hat man Sie mit besonderer Freude arbeiten sehen...
Für einen Regisseur macht natürlich nichts so viel Spaß wie solche Finali. Sie zwingen, jede Figur gleichermaßen ernst zu nehmen, jeder ihre Geschichte zu geben, ohne dabei die Gesamtausstrahlung der Oper und die Gesamttendenz der Regie aus dem Blick zu verlieren. Wenn das gelingt, dann ist das für mich gutes Ensemble-Theater; die Finali sind ein privilegierter Ort, so etwas zu realisieren. Man kann sich übrigens auch auf die musikalische Faktur verlassen, es handelt sich um schillernde, vielfarbige Nummern von hoher Qualität und überreicher Musikalität. Aber das situative Verschränken des Innen- und Außenlebens all dieser verschiedenen Protagonisten ist auch ein rein handwerkliches, ein sehr sinnliches Vergnügen, das stimmt.
Gelingt es heute, mit den doch etwas verschrobenen Verwicklungen der «Finta semplice» den Zuschauern irgendwie nahe zu kommen, jenseits von Klamauk und pflichtschuldiger Mozartverehrung?
Das muss gelingen, sonst müssen wir solche Opern nicht aufführen. Ich empfinde es ganz klar als meine Aufgabe, diese Dinge für ein heutiges Bewusstsein zu bearbeiten, das Lächerliche auf das Menschliche hin zuzuspitzen, das ist der Anspruch, sonst machen wir reine Repertoirepflege, eine letztlich museale Arbeit mit sehr limitiertem künstlerischem Anspruch. «La finta semplice» hält aber artistischen Ansprüchen stand. All diese Probleme von Gefühlsverdrängung, dann die Erkenntnis, wie hauchdünn die mühsam erarbeiteten zivilisatorischen Schichten über unseren Ur-Passionen sind, die Fragen um das Zusammentreffen von Kulturen, die sich in Lebens- und Liebeshaltungen manifestieren, das sind doch sehr aktuelle Sachen.
Sprechen wir über Figuren, vielleicht zuerst über Polidoro, dem Mozart einige der zärtlichsten Takte im ganzen Werk zugemessen hat.
Ja, Polidoro ist vielleicht die positivste Figur, die Mozart hier gestaltet hat – warum, darüber kann man nur spekulieren. Ich sehe sie als Vorläuferfigur zu Cherubino, auch Polidoro ist ein den eigenen Empfindungen staunend-beobachtend ausgelieferter Charakter. Das Verhältnis zu seinem Bruder – ein perfides Vorhöllendasein der liebend-fürsorglichen Unterdrückung – entzieht ihm die Möglichkeit, je nachdrücklich «ich» zu sagen. Entscheidend wird dann dieser unglaubliche, wunderbare Moment in der «Sposacara»-Arie, wo Polidoro dank der Liebe zu Rosina plötzlich etwas wie Profil und Identität gewinnt, eigene Entscheidungen trifft und sich gegen seinen Bruder auflehnen kann.
Am Ende geht er dennoch leer aus, vielleicht am leersten von allen.
Nicht unbedingt; er macht eine Entwicklung durch, sein neuerliches Zurückweichen vor dem Bruder ist nur Schein. Die Unterwürfigkeit ist definitiv gebrochen, als Intrigenopfer – meine Inszenierung belässt beide Brüder in der Opferrolle – sind sie sich plötzlich ebenbürtig. Cassandro ist statischer gezeichnet, er hat rein funktional mehr zu repräsentieren: Negativ überzeichnete Bürgertugenden, gegen die das Theater als «bürgerliche Erziehungsanstalt» hier angeht: Pedantik, einen dürftigen Bildungshorizont, der rationale Naturbeherrschung über alles stellt, Frauenfeindlichkeit, Verklemmtheit, Gefühlsarmut. Dann plötzlich mutiert er zum emotionalen Monster, wird von seinen vergewaltigten Leidenschaften überflutet und adaptiert das Verhalten derer, die er eigentlich verachtet: der Eindringlinge, der Soldaten mit ihrem Habitus der brutalen Enthemmung. Giacinta ist eine Zwischengestalt, sie erfährt die Ambivalenz des Geschehens am dringlichsten, einerseits die sexuelle Faszination durch die Präsenz der Soldaten, andererseits die Angst vor dem Verlust ihrer Integrität und Souveränität. Fracasso dagegen ist recht schematisch skizziert, soldatisch polternd, getrieben, bis auch er in der Auseinandersetzung mit Giacinta seine zivilisatorische Lektion lernt. Simone und Ninetta, Pflichtfiguren des Repertoires, spiegeln in ihrer subalternen sozialen Stellung vor allem den wechselseitigen Kulturtransfer zwischen Zivilpersonal und Soldaten, sie machen dieselben Positionswechsel durch wie ihre Herrschaft. Ninetta freilich ist die wohl modernste Person im Stück, selbstbewusst und resolut, sie macht ihr eigenes Begehren unverhohlen zum Programm. Sie will einen Mann, und zwar genau zu den Bedingungen, die sie vorgibt; das unzivilisierte Esstier Simone hat sich da zu fügen – und fügt sich.
Wir müssen noch über die Verschränkung von Liebes- und Intrigenthematik reden.
Ja, es geht vor allem um Liebe in dieser Oper. Beim Aufeinandertreffen dieser sehr verschiedenen Menschen wird bald ein gesellschaftlicher Nullpunkt erreicht, von dem aus die Machtfragen innerhalb des Liebesspiels neu angegangen, die Geschlechterrollen völlig neu definiert werden. Um solche Prozesse geht es. Diese Verhandlungen – skandiert durch Hemmungen und Enthemmungen, die nur zum Teil von den Protagonisten kontrolliert werden – finden, das ist sehr auffällig, fast ausschließlich im Horizont der Machtfrage statt: Wer ist stärker? Unter welchen Bedingungen liebe ich? Wer definiert diese Bedingungen, wer hat das letzte Wort? Rosinas Echo-Arie («Sentil’ecoovet’aggiri») ist diesbezüglich eine Insel, eine völlig utopische Ansage dessen, was Liebe auch sein könnte: ein harmonisches Hin-und-Her, völlig gleichberechtigt und autonom, im herrschaftsfreien Raum schwebend, ohne Kampf, ohne ständige Selbst- und Fremdüberwältigung. Und ohne Intrige, durch die das Gegenüber ja zum Triebaufschub gezwungen, gleichsam «erzogen» wird.
Intrige ist ein Schlüsselwort in dieser Oper, und es führt zur Rolle der Rosina.
Rosina lässt sich anfänglich als Instrument in das Intrigennetz einspannen (obwohl der Einspannungsvorgang als solcher nicht gezeigt wird), ja sie spinnt das Netz selbst. Aber jede Intrige entwickelt ihre eigene Dynamik und wird zunehmend unbeherrschbar, plötzlich sind Gefühle da, die fast zynische Lust am Machtspiel schlägt um in radikale Gefährdung. Das passiert Rosina, und sie emanzipiert sich plötzlich von der Instrumentalität, die sie sich selbst verschrieben hat. In meiner Regie entzieht sie sich panisch dem durch ihre Intrige entstandenen Zwang zur Wahl zwischen den zwei Brüdern. Ja, ich glaube Rosina ist eine sehr schillernde, sehr «Mozartsche» Figur, ihr vergeht recht plötzlich die Lust am eigenen Spiel. Am Schluss bannt sie die Opernhandlung auf einen Punkt der Unauflösbarkeit, und der anfangs so schön «aufgeklärte» Bühnenraum wird zur Gespenstergruft.