KÖNIGSKINDER - Interview mit Jens-Daniel Herzog und Mathis Neidhardt

Märchen oder These?

Ein Gespräch mit Jens-Daniel Herzog und Mathis Neidhardt

Jens-Daniel Herzog, Sie waren von Humperdincks «Königskindern» sofort rettungslos angetan. Warum?

Mein erster Eindruck war: Ein Stück voller Fragen. Ist es ein Märchen, eine Parabel, gedankenschwere Zeitkritik? Ist die Lösung, die das Stück anbietet, wirklich eine Lösung oder wieder nur eine Frage, eine Gesellschaftsdiagnose ohne Antwort und Remedur? In der Vorarbeit haben wir dann der geistigen Atmosphäre des ausgehenden 19. Jahrhunderts nachgespürt: Was ist passiert in der sich formierenden deutschen Wohlstandsgesellschaft nach 1870? Dreißig Jahre kein Krieg und doch keine klassische restaurative Phase, Gründerzeit mit viel Licht und Schatten; es ist die intellektuell so produktive Epoche eines Max Weber, Stefan George, Thomas Mann und Friedrich Nietzsche. In dieses geistige Milieu sind die «Königskinder» zu justieren.

So viel Aufwand für ein Märchen, das ja als solches weder Zeit noch Ort hat?                       

Nur die Oberflächensignale zeigen in Richtung Märchen. Das heißt jetzt nicht: Es ist zwar ein Märchen, aber man kann auch tiefere Schichten freilegen. Nein, diese Oper ist in vielen Belangen überhaupt kein Märchen. Es ist eine artifizielle Collage aus Märchenmotiven, eine kreative Neuerfindung des Märchens, um zu neuen Wahrheiten vorzustoßen. Am allerwenigsten ist es ein Volksmärchen wie «Hänsel und Gretel», das zum tradierten Erzählschatz einer Gesellschaft gehört, so wie die Romantik Märchen verstanden, geschätzt und verarbeitet hat, bevor sie sich im Kunstmärchen versuchte. Und in dieser Zeit unmittelbar nach Wagner, vergessen wir das nicht, hatte die Märchenoper zunächst auch ganz einfach die Funktion, überhaupt wieder Oper zu ermöglichen – Oper nach Wagner eben. Schon der Urtext von Elsa Bernstein wurde übrigens sofort als «Tendenzmärchen» erkannt und kritisiert, als ein Märchen also, das nur Verkleidung ist für etwas anderes. Humperdinck geht dann spür- und hörbar aufs Ganze und trägt im Märchenkleid eine von viel Emphase getragene Frage nach der richtigen Gesellschaft vor.

 

Mathis Neidhardt, was bedeutet dieses Doppelgesicht der «Königskinder» für die Ausstattung?

Bei der reinen Märchenoberfläche kann man es nicht belassen, das war uns rasch klar. Andererseits geht es darum, das Märchen und seine spielerischen, liebevollen Seiten, die ja von der Musik stark unterstützt werden, nicht zu verschenken. Poesie und Surreales kommen aber nur zum Tragen, wenn ein Märchen sich auf einem Hintergrund von Nüchternheit und Realismus entfalten kann, also im Kontrast. Das haben wir bei Kleists Fast-Märchen «Das Käthchen von Heilbronn» erprobt: Nicht in bravem, «heimeligem» Design, sondern nur gegen einen Horizont gehalten, der nicht schon selbst märchengetränkt ist, erschließt das Märchen seine zerbrechliche Wahrheit und wird zu dem, was es sein soll, zur «Gegenwelt», in der die Symbole wie Krone, Lilie, Schwert und Kranz nicht im Klischee ertrinken.

Die Dreifach-Dimension des Bühnenraumes, vielmehr: das Paradox, zugleich einen und doch mehrere Räume zu zeigen – liegt darin eine Reminiszenz an das Märchen, wo Unmögliches möglich wird?

Ja, die unauffällige Surrealität dieser Situation, die unterschwellige Bewusstseinserweiterung, zu der sie einlädt, verweigert gängigen Bühnenrealismus und ist durchaus märchenhaft gemeint. Natürlich musste auch eine Vielzahl praktischer Spielsituationen geschaffen werden. Und vor allem brauchte der «Königskinder»-Bühnenraum viel Assoziierbarkeit, ohne den Nimbus der Unwirklichkeit einzubüssen: Das geht vom Chemielabor über die Wissensfabrik und das schulische Nachsitzen bis hin zur Einsamkeit einer leeren Turnhalle und zur «Unwirtlichkeit unserer Städte». All das brauchen wir, um die Geschichte erzählen zu können.

Jens-Daniel Herzog, wie gestaltet sich dies im Einzelnen?

Wichtig war im ersten Akt der Gedanke der Zöglingsanstalt: Hier entfaltet sich zwischen Hexe und Gänsemagd die Pädagogik des Bösen, in der die Gänsemagd zu Hass und Egoismus erzogen wird. Aus der Lehranstalt wird dann im zweiten Akt ein Versammlungs- und Massenraum. Eine durch und durch verwaltete, ökonomisierte und materialistische Welt scheint die andere, die bei aller Einsamkeit doch auch Liebe und Sehnsucht begünstigt, fressen zu wollen. Dieser Ort wird dann im dritten, im eigentlich «metaphysischen» Akt, in dem sich fast – aber nur fast – etwas wie Transzendenz ereignet, völlig entleert und zur Ungastlichkeit ausgehöhlt. Räumlichkeit verliert wie alles andere den Sinn – diese Gesellschaft hat, wie die Romantik sagen würde, jede «Himmelfestigkeit» eingebüßt und verfällt zur Ruine. Konzeptuell grundlegend war es, zu zeigen, dass all dies aber letztlich ein und dieselbe Welt ist, eine Modellwelt in verschiedenen Stadien und Aspekten, aber keinesfalls hier das Hexenhäuschen, dort die böse Stadt, dort Zerstörung, Grab und Apotheose. In dieser Oper wird eine ganze Gesellschaft zur no-go-Zone, zum Nicht-Ort, und das heißt ja: zur Utopie. Folgerichtig kann dann am Ende diese merkwürdige Kinderutopie stattfinden.

Lässt ein Märchen mehr Erzähl- und Regiefreiheit als andere Opernformen?

Eher ist das Gegenteil der Fall, der erzählerische Stringenzanspruch ist erhöht. Die Figuren leben stark aus einer archaischen Typologie, bestimmte Wegmarken sind klar vorgegeben. Humperdinck legt allerdings die psychologischen Impulse der Charaktere und Situationen mit größter Genauigkeit frei, wobei ihm der Text – auch dies ganz märchenuntypisch – stark vorarbeitet. Der Zauberbann, der die Gänsemagd bei der Hexe festhält, wird ganz klar als psychisches Faktum gedeutet und vom Spielmann ausdrücklich als solches entlarvt. Auch der Königssohn macht einen Bildungs- und Läuterungsgang durch, der nur bedingt zum Typus passt. Die Figuren bekommen dadurch nachvollziehbare Motive und Handlungen zugearbeitet, wozu, wie gesagt, die Musik viel beiträgt. Nicht umsonst hat Humperdinck gespürt, dass dieser Stoff sehr operngeeignet ist und hat – über den Umweg einer äußerst innovativen Melodramfassung – mit höchster Passgenauigkeit und dramatischer Intelligenz eine herausragende Theatermusik komponiert, er begleitet die Entwicklung der Figuren bis ins Detail mit sehr viel Zartgefühl und Umsicht. Dabei hat ihm sicher die jahrelange Zusammenarbeit mit Wagner geholfen – ebenso wie der Wille und Instinkt, sich schließlich von diesem frei zu machen zugunsten eines eigenen musikdramatischen Idioms, das in dieser Partitur wahrscheinlich seine beeindruckendste Höhe erreicht hat.

Und das Ende? Kein Märchenende, oder doch?     

Der Schluss gehört der Utopie; sie ist nichts Geringeres als der Gründungsmythos einer neuen Gesellschaft – und es sind Kinder, die das repräsentieren. Die Ambivalenz dieses Schlusses, die sich heutigen Augen und Ohren wohl stärker aufdrängt als den Vor-Weltkriegsgesellschaften um 1900, liegt klar im Stück drin. Die Vision dieser Oper, der Glaube an die Machbarkeit einer Gesellschaft jenseits des planetarischen Kleinbürgertums, darf nicht einfach diffamiert oder anderswie bewertet, er soll vielmehr menschlich plausibel gemacht werden, und das beinhaltet eben auch Zwiespältigkeit. Der am Ende recht unheimlich verhallende «Königskinder»-Ruf, für den wir uns im Verlauf der Vorgespräche mit Ingo Metzmacher auf eine besondere Umsetzung geeinigt haben, muss seine verstörende Mehrdeutigkeit behalten. Wer sagt denn hier «Königskinder», woher stammt diese Sicherheit, diese Übermensch-Begeisterung, dieser fast religiöse Anspruch? Wie kommt es, dass sich all das nach dem Tod des Liebespaares weitervererbt auf eine Jugend, die sich plötzlich sehr entschlossen formiert, die aufbricht zu romantischem Phantasiekult, der wirklich, ja politisch werden will? Am Ende will die Phantasie zur Macht mutieren, so etwas ist immer unheimlich. 

Tod und Aufbruch, wie passt das zusammen?       

Man möchte am Ende vielleicht hören: «Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.» Aber so liegt die Sache hier nicht. Die Kinder sind tot, ganz einfach tot, verhungert, vergiftet. Religions- und Kultgründer werden dies eben gerade durch und über ihren Tod, der ganz innerlich zur Beweislogik der neuen Gemeinschaftsgründung gehört. «Königskinder» – das ist am Ende ein sehnsüchtiger Ruf, ja, aber eben auch eine These: man ist aufgerufen, daran zu glauben, dass das die neuen Adels- und Königsmenschen waren, die wir brauchen. Und dass es ihre Ideale jetzt umzusetzen gilt.

Noch einmal zurück zum Bühnenbild. Einfach gefragt: Wo sind die Gänse geblieben?

Natur ist hier von Anbeginn Zeichen, nicht Bühnenrealität. Bei der Gänsemagd sind Gänse Spiegelbild der Seele, Chiffre für die Sehnsucht nach einem Gegenüber. Sie wurde ja als weiblicher «Kaspar Hauser» eine ganze schreckliche Jugend lang isoliert; aber jetzt beginnt sie, sich selbst, ihren Körper und ihre Sehnsucht zu entdecken. Dafür stehen die Blumen, Bäume und Tiere, sie spiegeln die «wahre Natur» der Innerlichkeit, Unschuld und Liebe, die Humperdinck so eindrücklich in Musik setzt. Will man solche Innerlichkeit ernst nehmen, muss man Äußerlichkeit zunächst einmal abschaffen. Gleichzeitig sind Pflanzen das, woraus die Hexe ihr gehässiges Gift gewinnt, bloßes Instrument; Gänse sind dann Störenfriede einer Weltsicht, die nur züchten und behändigen will. Um solche Zeichenhaftigkeiten und ihre Relationen geht es, wenn man auf der Bühne «Natur» erzählen will, nicht um Ambiance und Design. Am Schluss dann, wo es schneit, meint dies metaphysische Kälte, Beckett’sche Endzeitstimmung – was nicht heißt, dass es nicht schneien kann auf der Bühne, wenn wir damit vermitteln können, was zu vermitteln ist. Übrigens sind die Regieanweisungen im Textbuch dieser Oper sehr präzise, was die Funktionen der Bühnendinge betrifft. An dieser Funktionalität orientieren wir uns, auch wenn wir sie nicht immer eins zu eins übersetzen. Es geht um ein Theater der Analogie, um Zweck- und Verhältnisgleichheit.

Was war die größte Schwierigkeit bei alledem?

Nun, die Balance zwischen Poesie, Romantik – wenn Sie wollen Märchenhaftigkeit – einerseits und sozialer Anklage andererseits, die ja sehr viel Grobheit, auch musikalische, impliziert. Das zusammen zu bringen und zu halten in Bühne und Regie, das hat sich als eine der großen Herausforderungen dieses Stückes gestellt und durchgehalten. Märchen ohne Kitsch, Gesellschaftskritik ohne Trash, das war das Problem – und ich glaube, das war auch schon Humperdincks Problem. Das merkt man dieser Musik an, darum hat er gerungen. Ziemlich erfolgreich, finde ich.

Das Gespräch führte Stefan Rissi