INTERMEZZO
Jenseits der Anekdote
Jens-Daniel Herzog über seine «Intermezzo»-Inszenierung
Jens-Daniel Herzog, als Regisseur, der die Arbeit konsequent mit der Analyse des Librettos beginnt, werden Sie bei Richard Strauss’ «Intermezzo» zuerst erschrocken sein?
Eigentlich nicht. Mir war sofort klar, dass ich nicht bei der autobiographischen Dimension stehen bleiben würde. Strauss’sche Familien-Interna auf die Bühne zu bringen, dazu derart belanglose und erst noch solche, die entschlossen nur einen Blickwinkel auf die Sache enthalten, darum konnte es nicht gehen; irgendwie musste der Durchbruch gelingen zum Überpersönlichen. Ich weiß, das sagt sich leicht und oft, aber hier ist es für einmal treffend: Es gibt in der Operngeschichte meines Wissens keinen zweiten Fall, wo sich ein Komponist so schamlos und scheinbar unmaskiert in seine eigene Oper einschleicht – sodass die Figuren nicht nur gegen die anderen Protagonisten anspielen müssen, sondern gegen den Autor und Komponisten selbst. Und das betrifft natürlich vor allem Christine, die in dieser Konstellation gleich doppelt auf verlorenem Posten steht. Um sie dreht sich bei uns alles, und zwar buchstäblich.
Geht das nicht – auch das sagt sich leicht und oft – an Strauss’ Intention mit seiner Opera domestica vorbei, die sich nun einmal Häusliches und «Banales» vornimmt?
Ich glaube nicht. Strauss selbst hat in späterer Zeit, als das Werk fast völlig vergessen ging und sich auch dann, wenn man es ihm zuliebe irgendwo aufführte, kaum Publikum einfand, bedauert, den Finger so vehement aufs Private gelegt zu haben. Insofern ist die Entfernung vom Historischen – wobei auch dieses «Historische» problematisch ist, die Geschichte ist stark stilisiert – durchaus im Sinne Strauss’. Viel schwerer aber wiegt etwas anderes. Strauss hat gelitten unter dem Schicksal seines «schweren Werkchens». Wenn man die Partiturvorwörter liest – es gibt gleich mehrere, während Strauss sich bei früheren Opern nie zu einem Vorwort herbeiließ! –, ahnt man den ungeheuren Anspruch, den Strauss mit diesem Werk verband. Es ging ihm um nichts Geringeres als um die Neuerfindung des Musiktheaters. Mit der Alltäglichkeit der Handlung – «Neue Sachlichkeit» hieß eine Losung der Zeit –, aber eben auch mit der raffiniert abgestuften Dialogbehandlung und dem Verfahren, alles Sinfonische in Zwischenspielen anzureichern, um die «Natürlichkeit» der Dialoge nicht preisgeben zu müssen.
Alles soll sich, sagten Sie, in Ihrer Inszenierung buchstäblich um Christine drehen?
Ja, der Kapellmeister Storch ist merkwürdigerweise die unergiebigere Figur; er ist der großzügige, selbstbeherrschte, treue Ehemann, dem alle zugetan sind, vom Hauspersonal über die Skatfreunde bis hin zum eigenen Sohn: Strauss hat hier einen eigentlichen Sympathiefeldzug gegen sich selbst inszeniert. Ganz anders Christine. Ja, um ihre Tragödie innerhalb dieser «bürgerlichen Komödie» geht es in unserer Inszenierung. Ich glaube, dieses Werk bedarf klarer Perspektiven, wenn es nicht im tändelnden Erzählen untergehen soll. «Die Frau», wie die Partitur manchmal typisierend sagt, steckt mitsamt ihrer aufgestauten Nervosität in einem goldenen Käfig. Anerkennung erhält sie einzig über den Ruhm ihres Mannes, der in einer Arbeits- und Leistungsgesellschaft zu Erfolg gekommen ist. Eine Nichtigkeit bringt ihre Welt völlig durcheinander, die noble Fassade bekommt Risse, geordnete und auf Störungsfreiheit getrimmte Abläufe kommen ins Stocken. Das ist eine Erschütterung für sie – mehrfach sagt sie, alles sei «erstorben» gewesen; ein starkes Wort –, obgleich eigentlich gar nichts passiert, alles ist ja bloß eine Verwechslung. Aber ihre eigene Wahrnehmung, ihr eigenes Empfinden, ihre Reaktionen – bagatellisiert als «nervös», und das zu einer Zeit, als Freud den Zusammenhang zwischen Sexualmoral und Neurose längst freigelegt hatte – sprechen eine andere Sprache. Wir kennen solche Frauen-Leben aus der Literatur der Zeit, bei Ibsen etwa, oder bei Schnitzler. Es ist eine Epoche, in der so etwas wie der Aufbruch der Frau zu sich selbst – wenn Sie wollen Emanzipation – längst möglich und opportun geworden ist. Bei Christine bleibt all dies in Anfängen stecken, am Ende richtet sie sich wieder in ihrer Eherolle ein. Was dazwischen war, ist eben «Intermezzo», nichts weiter. Selbst um ihren Protest wird sie noch betrogen.
Freiwilliger Verbleib in der Unmündigkeit also; wie spiegelt sich das im Bühnenbild?
Der Ausstatter Mathis Neidhardt, mit dem ich nun schon sieben Jahre kontinuierlich zusammenarbeite, hat ein Bühnenbild gestaltet, das Christines Perspektive so ernst wie möglich nimmt. Ihre Welt ist eine Welt der Fassade; allerdings ist die Fassade gegen sie selbst gewendet, sie ist letztlich immer ausgestellt, immer Objekt, und die Kehrseite der bourgeoisen Innenfassade ist deutlich unfreundlicher. Das Bühnenbild hat einen genauen Bezug zu Christines psychischer Situation der Unentrinnbarkeit – sie ist die einzige Protagonistin, die auf der bürgerlichen Dreh- und Projektionsscheibe verbleibt, rettungslos und ohne Ausgang. Was sich auftut, sind niemals ihre Türen. Selbst dann nicht, wenn sie im Sinne einer Droh- und Verzweiflungsgebärde mit dem Ehebruch zu spielen beginnt, um dann doch davor zurückzuschrecken. Die Ehebruchsliteratur des 19. Jahrhunderts – «Effi Briest», «Madame Bovary» oder «Anna Karenina» – klingt hier kurz an. Frauen gehen diesen für sie meistens tragisch endenden Weg, weil er der einzige ist, der ihnen etwas wie Befreiung verspricht. Aber bei Christine bleibt es ein halb strategisches Spiel, ein Ausbruchsversuch, ein leiser Schrei – genau wie dort, wo sie den Sohn für sich einzunehmen sucht, der sich aber schroff auf die Seite des Vaters schlägt. Noch dieses Schreckliche verwindet sie: Nur fast wird sie zur Medea der Wohnküche, am Ende des Ersten Aktes, wo die Musik auch plötzlich in die sonst vermiedene Überhöhung geht.
«Überhöhung», sagen Sie: Strauss hat den Sängerinnen und Sängern fast alles Lyrische und Kulinarische verweigert. Den «guten alten Strauss» bekommt man nur in den Aktschlüssen zu hören – und eben in den Zwischenspielen. Was bedeutet diese merkwürdige Anordnung für Ihre Inszenierung?
Zunächst ist damit klarzukommen, dass Strauss – und hier steht er unter dem Einfluss der Opernkrise jener Zeit, die mit der nun auch in Deutschland rasch wachsenden Bedeutung des Films einhergeht – keine Dramaturgie mehr zulässt, die auf das klassische Schauspiel oder auf die Oper des 19. Jahrhunderts verweisen würde. Die Szenen schlittern regelrecht ineinander über, die Abläufe erscheinen kontingent, unausgewogen, sie erinnern an Schnitttechniken, wie man sie aus dem Film in dieser Epoche kennt. Strauss hat auch an einem «Rosenkavalier»-Film mitgearbeitet, war also durchaus offen für dieses Medium. In «Intermezzo» hat er klar und kompromisslos auf Natürlichkeit und Alltäglichkeit hingearbeitet.
Überlastet er damit nicht die Kunstform Oper, die nun einmal zu den künstlichsten gehört?
Er treibt sie sicher an den Rand ihrer Möglichkeiten; aber genau das muss ab und zu geschehen, wenn man diese Möglichkeiten kennen und ausschöpfen will; es ist dem «Intermezzo» nicht abzusprechen, dass es innovativ, mutig und experimentell ist. Dass es keinen Platz im Repertoire hat, spricht noch nicht gegen das Werk. Für mich als Regisseur war natürlich die Frage, wie mit den Zwischenspielen umzugehen ist: das ist ja genuine Theatermusik, die den Handlungsgang entscheidend prägt. Das Bühnenbild musste dem Stil des Werkes gerecht werden, und ich habe gemeinsam mit Mathis Neidhardt eine Lösung gefunden, die einerseits das Atmosphärische, das Zeitsprungartige der Szenenwechsel bedient, andererseits auf die jeweiligen Funktionen der Zwischenmusiken reagieren kann, die ganz verschieden sind. Und sogar das Wort Szenenwechsel hat hier eine neue Bedeutung: Man springt nicht von Ort zu Ort, man nistet sich vielmehr in der Welt einer Frau ein, deren hermetische Geschlossenheit bis zum Schluss gewahrt bleibt. Christine ist selbst dann «dabei» und «vor Ort», wenn nur über sie gesprochen und gewitzelt wird, etwa in der Skatszene.
Die Konzentration auf die Frau, auf Christine, wird damit zu einer Art Ehrenrettung der Tragödie innerhalb einer betont «bürgerlichen Komödie»?
Es ist eine bürgerliche Komödie, ja. Aber genauso gut kann man es eine Komödie der Bürgerlichkeit nennen, und wer den Preis für diese Komödie bezahlt, ist klar. Ich brauche hier gar nichts gegen den Strich zu bürsten, es steht alles da. Nehmen Sie den Schluss mit seiner musikalischen Emphase und der Frage: «Ist das nicht eine glückliche Ehe?» Nüchtern gesehen kann man diese Frage nicht mit ja beantworten, am Ende der Oper steht nicht ohne Grund und guten Sinn – ein Fragezeichen. Es ist doch eigentlich ein Skandal, wenn sich Christine «Stolz und Selbstachtung» nicht etwa selber erkämpft oder verdient, sondern beides von ihrem Mann «zugestanden» bekommt, wie ein Blumenstrauß oder ein Schmuckstück, ausdrücklich als «schönste Zierde». Dergleichen alltägliche Tragik ist sicherlich auch heute aktuell und bedenkenswert. Da hat Strauss vielleicht mehr in sein «Werkchen» hineingelegt und tiefer «ins volle Menschenleben» gegriffen, als er selber wollte. Das Komödiantische kommt bei alledem übrigens nicht zu kurz, das hat Strauss mit gutem Sinn für Ehe-Realitäten so haarklein und temporeich vorausinszeniert, dass ihm nicht zu entgehen ist.
Hand aufs Herz: Hat dieses Werk eine Zukunft auf unseren Opernbühnen?
Wer weiß? Sogar Schönberg, der nicht eben viele gute Haare an Strauss ließ, hat sich lobend darüber geäußert. Mit Sicherheit sind Impulse darin, die nie hinlänglich gewürdigt worden sind. Ich höre, dass «Intermezzo» demnächst an einem anderen großen Haus zu sehen sein wird – aber all dies kann ich weder voraussagen noch beeinflussen. Ich hatte nur zu entscheiden, ob «Intermezzo» für mich spannend genug ist, um es in Zürich zu inszenieren. Und Sie sehen, wie ich entschieden habe.