DER FLIEGENDE HOLLÄNDER

Das Trauma einer bürgerlichen Welt

Gespräch mit Regisseur Jens-Daniel Herzog und Bühnenbildner Mathis Neidhardt über ihre langjährige Zusammenarbeit und die Inszenierung „Der fliegende Holländer“

Beide arbeitet ihr seit vielen Jahren zusammen und habt seit Così fan tutte 2004 am Nationaltheater Mannheim fast jede eurer Operninszenierungen gemeinsam herausgebracht. Diese Kontinuität ist bemerkenswert. Was würdet ihr als den Kern eurer Arbeitsbeziehung betrachten?

Mathis Neidhardt: Was uns verbindet, ist eine ähnliche künstlerische Grundüberzeugung. Wir haben ein gleichgeartetes Interesse an der Balance von Inhalt und Form, was uns bei der Verständigung über Stoffe und deren Umsetzung auf der Bühne von Anfang an sehr hilft. Ich empfinde mich in unserer Arbeitsbeziehung als gleichberechtigt, das heißt ich bleibe auch während der Proben stark in den Inszenierungsprozess einbezogen.

Jens-Daniel Herzog: Für mich ist an unserer Zusammenarbeit wichtig, dass Mathis meinen manchmal überbordenden Ideen und Fantasien eine klare Form gibt. Er verortet in seinen Bühnenbildern und Kostümen das Geschehen stets sozial konkret, ohne es platt zu aktualisieren oder historisch zu konservieren. Es sind Bilder und Entwürfe, die über die Tagesaktualität hinausgehen und eine Art Überzeitlichkeit schaffen, in der sich der Zuschauer assoziativ mit seinen sozialen Erfahrungen einbringen kann bzw. wiederfindet.

Was für mich in der Zeit unserer Zusammenarbeit entstanden ist, ist die Wiedererkennbarkeit einer gemeinsamen Handschrift. Ich habe in der künstlerischen Auseinandersetzung mit Mathis gelernt, dass es bei einer Inszenierung nicht um das Neue an sich geht – die innovative Lesart oder das geniale bühnenbildnerische Konzept –, sondern um eine anders reflektierte Sicht von Stoffen oder Themen. Dass wir so eine Basis gefunden haben, auf der wir uns künstlerisch gemeinsam weiterentwickeln, macht für mich den Kern unserer Arbeitsbeziehung aus und ist kennzeichnend für das gegenseitige Vertrauen, das in all den Jahren dadurch zwischen uns entstanden ist.

Habt ihr auch schon Krisen in dieser Zeit erlebt, an denen eure Zusammenarbeit zu zerbrechen drohte?

M.N.: Sicherlich gibt es, wie in jeder Arbeitsbeziehung, auch mal atmosphärische Störungen, aber unsere Zusammenarbeit war wegen unterschiedlicher Standpunkte in bestimmten künstlerischen Dingen nie infrage gestellt.

J.D.H.: Für mich gab es in den zehn Jahren unserer Zusammenarbeit keine Sekunde, in der ich die Produktivität unserer Arbeitsbeziehung in Zweifel gezogen habe. Es gibt mir eine große innere Sicherheit und Freiheit, dass man künstlerisch zusammengehört.

M.N.: Ich spüre auch keine Form der Abnutzung oder falschen Routine. Es kommt in unserer Zusammenarbeit immer Neues, uns selbst Überraschendes hinzu.

Ihr habt von Vertrauen gesprochen. Wie wichtig ist das Vertrauen in die Stoffe und Stücke, die ihr zur Aufführung bringen wollt? Gab es im Prozess der Auseinandersetzung mit einzelnen Werken auch schon mal den Moment, der euch an der grundsätzlichen Möglichkeit oder Relevanz der Umsetzung essenziell hat zweifeln lassen?

M.N.: Im Gegenteil. Ich habe eher die Erfahrung gemacht, dass aus dem Zweifel an Stoffen und Themen eine stärkere Produktivität für uns beide erwächst.

J.D.H.: Ich empfinde es auch so. Formal und inhaltlich krude, sperrige Gegenstände fordern stärker dazu heraus, ihnen einen spannenden Ausdruck zu geben, als über jeden Zweifel erhabene Stoffe, bei denen man sich meist mehr mit der Rezeptionsgeschichte herumschlägt, statt zum Kern der Geschichte vorzudringen und herauszuarbeiten, was uns daran heute noch auf den Nägeln brennt.

Wie steht es mit eurem Vertrauen in ein Publikum, das sich heute noch auf diese alten Stoffe einlassen kann und auf die traditionelle, heutigen Sehgewohnheiten eher entgegenstehende Opernästhetik?

M.N.: Uns geht es doch erst einmal nicht anders als unserem Publikum. Wir versuchen uns den Stoffen zunächst selbst anzunähern, um sie heute zu verstehen, und in diesen Verstehensprozess beziehen wir das Publikum durch die Inszenierung mit ein. Entscheidend ist es, den eigenen Zugang zu finden, aus dem heraus man sich dem Publikum mitteilen und verständlich machen will. Mich erinnert das an einen Übersetzungsvorgang: einen historisch oder ästhetisch fernen Gegenstand für ein heutiges Publikum übersetzend verstehend wollen.

J.D.H.: Ich habe ein fast zwanghaftes Bedürfnis, die Motive für das Handeln von Figuren auf der Bühne zu verstehen und diese in der Inszenierung für ein Publikum freizulegen. Nur so kommen wir in einen gesellschaftlichen Dialog über das, was uns Menschen antreibt, hoffen oder verzweifeln lässt, zu Mördern oder großen Liebenden macht. Und ich vertraue zutiefst darauf, dass das Publikum diesen Dialog annimmt. Diese Erfahrung habe ich jedenfalls auf meinen bisherigen Arbeitsstationen gemacht.

Vertrauen ist auch ein zentrales Thema im „Fliegenden Holländer“, genauer gesagt das Vertrauen als Geschäftsgrundlage der bürgerlichen Gesellschaft. Ohne Vertrauen käme kein Vertragsabschluss zustande, bräche die Basis des Warenverkehrs und damit der Austausch lebensnotwendiger Güter weg. Vertrauen wird jedoch zugleich massiv erschüttert, wenn alle Beziehungen der Menschen, nicht nur die geschäftlichen, auf rein ökonomische Basis gestellt werden: Fürsorge, Anerkennung, Liebe z.B. Wie ist es mit dem Vertrauen der Protagonisten im „Fliegenden Holländer“ in ihre Umwelt und ihre Mitmenschen bestellt?

J.D.H.: Das permanente Einfordern von Vertrauen durch die Figuren zeigt dessen grundsätzliche Erschütterung an. Diese alles erfassende Vertrauenskrise wird durch die Figur des Fliegenden Holländer auf surreale Höhen getrieben, wenn er die Konsequenz aus dem bürgerlichen Ehevertrag einfordert: die Liebe – also unbedingtes Vertrauen – bis zum Tod. Vertrauen scheint im „Fliegenden Holländer“ durch unterschiedliche Vertragsmodelle abgelöst: den Vertrag zwischen Daland und Holländer über den Tausch der Tochter gegen Geld; zwischen Erik und Senta über den Tausch von Liebe gegen Anerkennung bzw. Statusgewinn; zwischen Holländer und Senta als Tausch von Liebe (bis zum Tod) gegen das eigene Seelenheil. Das Gleiche gilt auch für die in der Oper gezeigte kleinbürgerliche Gemeinschaft, die auf einer Art Gesellschaftsvertrag basiert: Die Liebe der Frauen wird eingetauscht gegen das Geld der von ihren Geschäften auf den Weltmeeren heimkehrenden Männer. Ein gnadenloser Verdrängungswettbewerb existiert also auch auf erotischem Terrain, den wir ebenso sichtbar machen wollen.

Wie lässt sich in diesem Zusammenhang die Erscheinung des Holländer, einer Sagengestalt, interpretieren?

J.D.H.: Man steht bei solchen Gestalten ja stets vor einem besonderen Problem. Inwieweit ist eine Spukgestalt in einer bürgerlichen Wirklichkeit „real“, inwieweit nur Projektion innerer Sehnsüchte, Ängste oder Wünsche der Figuren. Wir fassen in der Inszenierung die Gestalt des Holländers zunächst real auf, das heißt er begegnet den Figuren der kleinbürgerlichen Welt in Wagners Oper physisch-konkret und spiegelt zugleich deren innerste Wirklichkeit wider. So der Steuermann, der sich nichts sehnlicher wünscht, als zu seiner Geliebten zurückkehren zu können und sich plötzlich mit einem Menschen konfrontiert sieht, der den Fluch ewigen Umherirrens verkörpert. Oder Daland, der wie der Holländer das Äußerste wagt, um sein Geschäft zu retten: den Verkauf der eigenen Tochter. Der Holländer ist also auf eine Art immer auch gestaltgewordenes Trauma der Figuren, denen er begegnet. Ein Wiedergänger ihrer verborgenen Ängste, Nöte, todbringenden Wünsche.

Wird dieser Aspekt, der Holländer als traumatische Erscheinung der Figuren, in der Inszenierung besonders herausgearbeitet bzw. dargestellt?

M.N.: Wir hatten zunächst die Idee, den Holländer in allen drei Akten in unterschiedlicher Gestalt auftreten zu lassen. Diesen Gedanken haben wir aber inzwischen wieder verworfen, weil es uns richtiger erscheint, das veränderliche Wesen der Figur aus der konkreten Situation heraus deutlich zu machen. Das Befremdliche, Andere der Holländer-Figur also aus der Beziehung zu ihrem jeweiligen Gegenüber – Steuermann, Daland, Senta oder Erik – und nicht plakativ, über Kostümveränderungen z.B., zu zeigen.

Bei der Ausstattung habt ihr den maritimen Rahmen des Geschehens weitgehend unberücksichtigt gelassen. Es gibt keine Schiffskulisse, kein Hafenambiente, keine Matrosen. Worauf kam es bei der Gestaltung der Bühne stattdessen an? Warum der Verzicht aufs maritime Kolorit?

M.N.: Wir haben ja nicht ganz darauf verzichtet. Im Gegenteil, das Meer ist als Kulisse immer präsent. Es bildet den überzeitlichen Rahmen der kleinbürgerlichen Welt, in der sich das Geschehen abspielt. Innerhalb dieses Rahmens erzählen wir die drei Akte der Oper jeweils aus der Sicht einer anderen Figur, der ein konkreter Raum zugeordnet ist: Dalands Kontor, die Frauenwelt Sentas, die Kneipe der Männer, in der Erik ein Ausgeschlossener bleibt.

J.D.H.: Das Meer ist sogar omnipräsent, als Chimäre, vor die sich der bürgerliche Horizont in den jeweiligen Akten buchstäblich schiebt. Das Meer ist dabei von besonderer Symbolik. Wie Carl Schmitt sagt: „Das Meer hat keine Grenzen.“ Insofern erlaubt es auch keine Grenzziehung. Es bildet eine Gegenwelt zur bürgerlichen Gesellschaft – als Element der Bedrohung und der Sehnsucht. Es ist also, wie die Holländergestalt, zugleich äußere Realität und Zeichen oder Spiegel innerer Figurenwirklichkeit.

Mit dem „Fliegenden Holländer“ eröffnet Jens-Daniel Herzog seine Intendanz an der Oper Dortmund. Warum ausgerechnet mit diesem Werk?

J.D.H.: Die Oper Dortmund steht für eine langjährige Wagnertradition, an die wir anknüpfen möchten mit einer Wagner-Reihe, die uns in den nächsten Jahren begleiten wird – vom Frühwerk des Komponisten, das ihn auf dem Weg zu seinem „Musikdrama“ zeigt, bis zu dessen späten Opern. Die Dortmunder Philharmoniker sind zudem prädestiniert für die Aufführung von Werken der Klassik und der klassischen Moderne. Und nicht zuletzt steht mir mit Jac van Steen ein ausgewiesener Fachmann des klassisch-romantischen Opernrepertoires zur Seite mit einer starken Verankerung in der Moderne, mit dem ich beim „Holländer“ nun zum ersten Mal zusammenarbeiten werde.

Was spricht neben der Tradition des Hauses für die Entscheidung? Ist es eine Geschichte, die nach Dortmund „passt“?

J.D.H.: „Der fliegende Holländer“ ist eine kantable, zutiefst romantische, extrem süffige Oper. Ein Blockbuster, würde man heute sagen. Es geht darin ums ökonomische Überleben und das Ringen um Identität, Anerkennung und Erfolg. Um Alternativen zu einem unhaltbar gewordenen Zustand und die Frage nach der Verantwortung, die man für das Wohl des Anderen und sein eigenes Schicksal trägt. Also eine Geschichte, die für mich auch von ihrem sozialen Hintergrund her sehr gut nach Dortmund passt.

Aufgezeichnet von: Hans-Peter Frings